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NSU-Prozess vor Sommerpause

Tolun: "Die Banalität des Bösen ist sichtbar geworden"

Stand: 06.08.2013, 09:30 Uhr

Nach mehr als 30 Verhandlungstagen geht der NSU-Prozess in die Sommerpause. Heute (06.08.2013) wird jedoch noch einmal verhandelt. WDR-Journalistin Ayca Tolun berichtet über das Verfahren. Im Morgenecho von WDR 5 zieht sie eine erste Bilanz des Terrorprozesses.

WDR5: Frau Tolun, Sie sind in den vergangenen Wochen immer wieder nach München gereist und haben das Geschehen vor Gericht verfolgt. Wie läuft der Prozess bislang?

Ayca Tolun: Es ist sehr kompliziert, sehr schwierig, sehr trocken und als Journalistin sehr schwierig wiederzugeben. Beim NSU-Prozess werden 14 einzelne Strafverfahren auf einmal verhandelt - zehn Morde, ein Brandanschlag, Raubüberfälle und der Nagelbombenanschlag von Köln. 600 Zeugen müssen gehört werden und aufgrund des anfänglichen Hin und Her um die Presseplätze ist der Zeugenkalender völlig durcheinander geraten.

WDR5: Was bedeutet das für den Prozessalltag?

Tolun: In der Konsequenz führt es dazu, dass der Prozess nicht chronologisch geführt wird. An jedem Verhandlungstag werden mehrere Taten behandelt. Vormittags redet ein Zeuge zum Brandanschlag und nachmittags kommen zwei Zeugen zu unterschiedlichen Morden. Manchmal sind es am Tag mehrere Zeugen zu verschiedenen Morden, die in unterschiedlichen Jahren passiert sind. Für alle Beteiligten besteht die große Schwierigkeit darin, bei der ganzen Sache den roten Faden zu behalten.

WDR5: Wie erleben Sie die Hauptangeklagte Beate Zschäpe?

Tolun: Ganz am Anfang war ich ziemlich erschrocken, weil ich sie fast sympathisch gefunden habe. Ich erwartete, entweder in ein Häufchen Elend oder direkt in das Gesicht des Bösen zu blicken. Beides war aber nicht der Fall. Über ihre Anwälte ließ sie mitteilen, dass sie nicht reden wird. Daran hält sich Zschäpe auch. Und man hat sogar das Gefühl, dass sie sich dabei nicht schwer tut - im Gegenteil. Sie hat ihren Auftritt im Gericht sehr stark ritualisiert.

WDR5: Wie verhält sie sich denn?

Tolun: Sie kommt rein, dreht sich um und minutenlang wird sie im Rücken fotografiert. Derweil scherzt sie mit ihren Anwälten und setzt sich dann hin. Danach klappt sie ihren Laptop auf, macht eine Bonbon- oder Kaugummidose auf und lässt alles weitere stoisch über sich ergehen.

WDR5: Was ist über ihre Funktion beim Nationalsozialistischen Untergrund deutlich geworden?

Tolun: Inzwischen wurde ziemlich viel über sie und ihre mögliche Rolle beim NSU-Trio gesprochen. Es sind Nachbarn und Angehörige von Opfern aufgetreten. Aber sie selbst reagiert gar nicht bis sehr wenig. Trotzdem werden die Konturen ihrer Person langsam sichtbar. Es ist klar, dass sie nicht das Heimchen am Herd gewesen ist, sondern mutmaßlich für die Logistik des Trios und vor allem für die bürgerliche Fassade gesorgt hat. Beate Zschäpe besaß elf verschiedene Ausweise und damit elf verschiedene Identitäten. In den zehn Jahren im Untergrund hat sie nicht einen einzigen Fehler gemacht. Ob sie bei den Morden tatsächlich Hand angelegt hat oder nicht, wird sich noch herausstellen. Aber womöglich war sie sogar der intellektuelle Kopf des Trios. Und sollte man ihr genau das nachweisen können, dann stimmt vielleicht auch die These, dass es die NSU-Morde ohne Beate Zschäpe gar nicht gegeben hätte.

WDR5: Ergeben diese vielen Mosaiksteine denn schon irgendein Bild in die eine oder andere Richtung?

Tolun: Noch ist es wahnsinnig früh von einem kompletten Bild zu sprechen. Es ist eher ein Puzzle. Für mich persönlich ist die Banalität des Bösen sichtbar geworden. Was wir bislang über die mutmaßlichen NSU-Mörder erfahren haben erschreckt mich so sehr, weil deren Lebensumstände so erschreckend normal gewesen sind. Wenn wir von Beate Zschäpe reden, geht es um die Diddl-Maus-Liebhaberin und Katzenfreundin, die in einer festungsgleichen Wohnung lebt und mit einer afghanischen Nachbarsfamilie im Garten grillt. Dazu kommen zwei Männer, die selten zuhause sind und als wortkarg, aber sehr freundlich gelten. Und es gibt Nachbarn, die viele Jahre lang nichts, aber auch wirklich nichts gemerkt haben wollen. Für mich ist die Bilanz von all dem, dass die Behörden lernen müssen, das rechte Auge nicht mehr vor so viel Normalität so massiv zusammenzukneifen.

Das Interview führte Petra Ensminger im Morgenecho vom 06.08.2013