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Gleise in Auschwitz-Birkenau

Über den Sinn und Unsinn des Holocaust-Gedenkens

Illusion der Vergangenheitsbewältigung

Stand: 25.01.2015, 09:20 Uhr

Am 27. Januar jährt sich zum 70. Mal der Tag, an dem Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz befreiten. Dieser Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ist in der Bundesrepublik ein nationaler Gedenktag. Eingeführt wurde er am 3. Januar 1996 durch Bundespräsident Roman Herzog. Von Beginn an war die Einführung nicht unumstritten, genau wie das öffentliche Gedenken an diesem Tag. Vor allem in Schulen, Jugendeinrichtungen und Gedenkstätten hat sich eine "Pädagogisierung des Holocaust" etabliert. Schicksale der Ermordeten verbinden sich mit didaktischen Lernzielen und merkwürdigen Ritualen. Gleichzeitig wächst ein Unbehagen an der Erinnerungs-Kultur.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt

Die Essener Lehrerin war sichtlich stolz auf ihr Engagement: Anlässlich des Gedenkens an den Novemberpogrom hatte sie ihre Klasse zu einem Gang durch die Stadt geschickt - jedes Kind mit einem selbstgebastelten gelben Stern am Mantel! "Damit", so erklärte sie, "die Kinder mal sehen, wie das ist, wenn man ausgegrenzt wird." Und in Köln erzählt man sich von einer nicht minder engagierten Referendarin, die für ihre Klasse ein Stück verfasst hatte, in dem die Schüler Szenen aus einem KZ mit verteilten Rolle spielen sollten.

Solch "gutgemeinte Torheiten" hätten Hochkonjunktur, wenn es hierzulande ans Gedenken geht, meint Ulrike Jureit, Historikerin am Institut für Sozialforschung in Hamburg. Es seien Schulen, Akademien, Jugendzentren oder Gewerkschaftsforen, deren erlebnispädagogischer Eifer oftmals vor keiner Geschmacklosigkeit zurückschrecke. Die Historikerin ist kritisch: "Das ist etwas, das ich hochproblematisch finde, was aber immer noch, und auch sehr lange Zeit schon durchaus verbreitet ist. Es ist auch, wenn man es jetzt von der Forschung her sieht, fragwürdig, ob man damit tatsächlich eine intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte herstellen kann."

Deutsche “Erinnerungswut“ bei Auschwitz-Gedenken?

'Stolpersteine' genannte, ins Pflaster des Gehwegs eingelassene Platten zum Gedenken an deportierte Juden, Deutschland

Stolpersteine

Ein "rückwärtsgewandtes, opferidentifiziertes Erinnern" zwischen "Wiederholungsphobie und Erlösungswahn“ konstatiert die Hamburger Historikerin in ihrem Buch “Gefühlte Opfer - Illusionen der Vergangenheitsbewältigung": "Das ist eine Form der Individualisierung und auch der Emotionalisierung, die darauf setzt, dass über die Identifikation mit den Opfern diese Zeit nähergebracht, wachgehalten wird, dass man sich mit ihr auseinandersetzt. Ich glaube, dass diese emotionalen und häufig auch biografisch stimulierten Zugänge viel zu einseitig sind und dass unsere Erinnerung sich nicht nur auf diese Seite der Geschichte konzentriert, sondern ebenso stark sich auseinandersetzen muss, dass es eine deutsche Gesellschaft war, aus der heraus diese Verbrechen begangen wurden."

Eine deutsche "Erinnerungswut" anlässlich des Auschwitz-Gedenkens ließ denn auch den jüdischen Essayisten Eike Geisel zornig spotten: "Zum Rahmenprogramm deutscher Selbstfindung gehört jenes unerträgliche Gemisch aus Begegnungskitsch und immer gleicher Beschäftigungstherapie, aus betroffenen Christen, eifernden Hobbyjudaisten und akribischen Alltagshistorikern." Nun ist die Sehnsucht, eine traumatische Vergangenheit zu "bewältigen", verständlich; abwegig aber sei die Vorstellung, eine Fixierung auf diese Vergangenheit gewähre Befreiung von ihr wie Ulrike Jureit betont: "Bei uns hat sich etabliert, dass unsere Formen des Erinnerns uns irgendwann in die Lage versetzen können, in einen Zustand der Erlösung zu gelangen."

Erinnerungskultur als "Ablasshandel"

Dokumentiert etwa durch den oft zitierten Satz, die Erinnerung sei "das Geheimnis der Erlösung". Dieser Satz sei immer wieder falsch verstanden worden, so Jureit: "Je mehr, desto besser, ist falsch! Erinnerung per se und vor allem an den Holocaust ist immer positiv, ist immer gut und darüber hat sich eine Vielfalt von erinnerungskulturellen Formen legitimiert, die nicht bedacht hat, aus welchem Kontext dieser Satz stammt." Nämlich von Baal Schem Tov, dem gelehrten Gründer der chassidischen Bewegung, der damit im 18. Jahrhundert die Juden aufruft die eigene Heimat im Heiligen Land und die Zerstörung des Tempels nicht zu vergessen. Dagegen werde die heutige Erinnerung an die Ermordeten in Auschwitz niemanden "erlösen". Die Wissenschaftlerin zieht historische Vergleiche: "Hier vermischen sich Dinge völlig unreflektiert, die dazu geführt haben, dass wir - ich sag es jetzt mal etwas zugespitzt - in eine Art Ablasshandel geraten sind."

Beschäftigung mit der Vergangenheit erweist sich als folgenlos

Stolpersteinapp mit der man mehr über die Opfer erfährt

Stolpersteinapp

Das Gedenken an Auschwitz sei zu einem Ritual erstarrt, meint die Historikerin. Sonntagsredner könnten damit eine moralisch überlegene Haltung demonstrieren. Begleitet wird diese Haltung oftmals von der felsenfesten Überzeugung "aus der Geschichte gelernt" zu haben. Das allerdings bezweifelt Ulrike Jureit, denn wenn diese Erinnerungsarbeit irgendetwas deutlich mache, so sei es das Scheitern des vielbeschworenen "Lernens aus der Geschichte". Gerade vor dem Hintergrund augenblicklicher Ereignisse - etwa der seit 1945 übelsten Welle antisemitischer Ausschreitungen im letzten Sommer - wird klar: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit bleibt einfluss- und folgenlos für die Gegenwart, resümiert die Hamburger Forscherin: "Es geht ja darum, Geschichte dahingehend zu befragen, welche Antworten sie uns auf unsere gegenwärtigen Herausforderungen geben kann. Was sagt uns die Geschichte über das, was uns aktuell beschäftigt."

Redaktion: Theo Dierkes