Küchenexperimente - Physik beim Radfahren

Stand: 05.07.2013, 16:05 Uhr

Ein Regal, das nur an einer Seite aufgehängt ist, kracht zu Boden. Und ein drehendes Rad? Dieses Küchenexperiment schlägt der Schwerkraft ein Schnippchen.

Von Sascha Ott

Die Küchenexperimente bereiten mir immer dann besonderes Vergnügen, wenn sie etwas hervorbringen, was eigentlich der alltäglichen Erwartung widerspricht. So wie in diesem Fall: Eigentlich würde man erwarten, dass ein Gegenstand, der nur an einem äußersten Ende aufgehängt ist, zu Boden kippt. Aber die Physik hat eben doch immer wieder noch einen verblüffenden Trick auf Lager.

DER VERSUCH

Am einfachsten lässt sich dieser Versuch ausprobieren, wenn man noch eine alte Fahrradfelge im Keller hat. Ansonsten muss man zum Werkzeug greifen, denn wir brauchen:

  • das Vorderrad eines Fahrrades (am besten eines kleinen Kinderrades, ca. 20 Zoll);
  • einen Besen;
  • zwei Stühle;
  • etwa einen Meter Schnur;
  • eine Schere.

Ich lege den Besen über zwei Stuhllehnen. Dann binde ich mit der Schnur zwei etwa 20 Zentimeter lange Schlaufen um den Besenstiel. In diese Schlaufen hänge ich das Rad, genauer gesagt: Das eine Achsenende durch die eine, das andere durch die zweite Schlaufe. Das Rad hängt jetzt frei und kann sich drehen wie am Fahrrad. Jetzt bringe ich das Rad ordentlich in Schwung, so schnell es bei dieser Konstruktion geht. Und dann schneide ich mit einer Schere die eine Schlaufe, die das Rad hält, einfach durch. Das Rad ist dann nur noch an einer Seite aufgehängt. Also, noch mal kräftig beschleunigen, und schnipp!

DAS ERGEBNIS

Das Rad fällt nicht, es dreht sich weiter. Obwohl es nur noch an einem Ende der Achse festgehalten wird, kippt das Rad nicht zu Boden, sondern es bleibt aufrecht. Und es beginnt, sich um die eine verbliebene Halteschlaufe herumzudrehen. Wir haben jetzt also zwei Drehungen: Das Rad dreht sich um seine Achse und gleichzeitig rotiert es um die Schlaufe, an der es hängt. Das geht so lange bis das Rad seinen Schwung verloren hat. Dann tut es, was man eigentlich sofort erwartet hätte: Es kracht zu Boden.

DIE ERKLÄRUNG

Die Bewegung eines Kreisels genau zu berechnen gehört zum mathematisch Anspruchsvollsten in jeder Mechnik-Vorlesung. Denn diese Drehung ist aus mehreren unterschiedlichen Bewegungen zusammengesetzt. Ich will versuchen, halbwegs anschaulich die Vorgänge zu beschreiben, die man in der Physik mit einem Gewirr aus Vektoren nachvollzieht.

Wenn ich die Schlaufe durchschneide, dann zieht die Schwerkraft das Rad an dieser Seite nach unten. Das heißt, die Schwerkraft versucht, die Achse, um die sich das Rad dreht, nach unten zu kippen. Physiker sagen dazu: Die Schwerkraft übt auf die Achse ein Drehmoment aus. Dann haben wir zwei Drehungen: Die Rotation des Rades um seine Achse und die von der Schwerkraft hervorgerufene Drehung des gesamten Rades samt Achse um den einen verbliebenen Aufhängepunkt. Ergebnis dieser beiden Drehungen ist dann aber eine dritte Drehung, die senkrecht zu den beiden ersten verläuft: Diese Bewegung nennt man Präzession. Und diese Präzession zeigt immer senkrecht zur Kipprichtung. Deshalb bewegt sich das Rad aufgerichtet, wie es ist, um die verbliebene Halteschlaufe, fällt aber nicht zu Boden, wie man es eigentlich erwarten sollte.

Das gleiche geschieht bei einem normalen Spielzeugkreisel: Wenn der Kreisel nicht ganz perfekt senkrecht steht, sondern leicht zur Seite geneigt ist, dann kippt er nicht um, sondern seine Drehachse beginnt eine gemächliche Kreisbewegung. Der Kreisel beginnt zu eiern. Die Kreiselgesetze verfolgen die Physik-Studenten bis in die Astronomie, denn auch die Planeten sind riesige Kreisel und auch sie zeigen eine Präzession. Die Achse der Erde beispielsweise ist um 23,5 Grad gegen die Ebene der Erdbahn um die Sonne geneigt. Und in Folge der Präzession rotiert die Achse im Laufe von 25.800 Jahren einmal um die Senkrechte auf der Bahnebene.

FAZIT

Die Präzession hält ein einseitig aufgehängtes Rad aufrecht. Sie ist aber nicht der Grund, warum wir Radfahren können. Fahrradfahren ist einfach ein ständiges unbewußtes durch Lenken und Gewichtsverlagerung erzeugtes Gegensteuern gegen das Umfallen.

Redaktion:
Peter Ehmer