Buchcover: "Stories" von Joy Williams

Buch der Woche

"Stories" von Joy Williams

Stand: 09.06.2023, 14:12 Uhr

Edgar Allan Poe und Raymond Carver. J.D. Salinger und Lorrie Moore. Joyce Carol Oates und Ernest Hemingway: die Liste der amerikanischen Schriftsteller, deren Ruhm ganz wesentlich - oder sogar ausschließlich - auf Kurzgeschichten gründet, ist lang. Wie der Band "Stories" zeigt, gehört auch die mittlerweile 79-jährige Joy Williams in diese Reihe.

Schon 1973 war Williams mit ihrem ersten Roman "State of Grace" für den National Book Award nominiert. Berühmt geworden aber ist sie mit Kurzgeschichten wie "Lu-Lu". Ein altes Paar, Don und Debbie, sitzt am Swimmingpool, offenbar in Florida, und trinkt Gin mit Grapefruitsaft. Die Früchte direkt vom Baum im Garten, innen herrlich rosa, aber auf den Blättern krabbeln Spinnmilben- und Blattläuse. Und dann sitzt da noch Heather, "jung und verzweifelt". Warum? Man erfährt es nicht.

Nach drei, vier Sätzen sind wir drin in dieser depressiven Welt, auf die die Sonne scheint. Und dann wird es seltsam. Heather, Don und Debbie, heillos betrunken alle drei, reden über das Leben, "morbide Mexikaner" und über die Seelen von Neandertalern. Vor allem aber über Schlangen.

Die Dunes, das alte Paar, haben ein Haustier, eine riesige Boa namens Lu-Lu, die gerade irgendwo Milch trinkt. In einer Veranda an der Decke hängen sechs graue papierdünne Häute von früheren Häutungen. Debbie erzählt, wie die Boa kleine Ratten erstmal in ihrer Speiseröhre aufbewahrt, bevor sie verdaut werden. Die Speiseröhre, sagt sie, ist wie ein gemütliches kleines Wartezimmer vor der Folterkammer dahinter.

Schließlich bringt Heather die Alten ins Bett, die Sonne scheint noch. Sie deckt sie zu und macht ihr Auto reisefertig. Sie will mit der Schlange Lu-Lu fort um ein neues Leben zu beginnen. Bloß: Wie bekommt man eine Boa ins Auto? Oder wie Heather ganz am Ende der Story sagt: "Wie lockt man so etwas herbei, fragte sie sich; etwas, das alles verändern kann, mein Leben?"

Es sind harte, finstere Geschichten, die Joy Williams schreibt. Geschichten über unglückliche Kinder und einsame Erwachsene, die zu viel trinken. Sie haben Schlimmes hinter sich und Schlimmes vor sich. Tod und Krebs und bittere Einsamkeit und allerlei Formen von Depression. Und selbst wenn die Leute mal wissen, was Liebe sein könnte, nützt das, wie Williams in „Liebe“ schreibt, niemandem etwas und wird selten gewürdigt.

Doch gleichzeitig und auf durchaus mysteriöse Weise sind Williams Geschichten lustig und vor allem: völlig verrückt. Ganz absichtlich und sehr kunstvoll verrückt. Die normalen Ordnungen von Logik und Realismus sind außer Kraft gesetzt. Hier passiert nicht, was man erwarten würde. Nie.

Es gibt in Joy Williams’ Welt forensische Anthropologen, denen bei der Jagd ein Pfeil ins Auge dringt. Es gibt Lampen, die mit ihren Besitzern Kierkegaard lesen. Es gibt Väter, die sagen über ihre Tochter: "Sie wird keine Freunde haben, wenn sie groß ist, sie wird Ex-Männer, Feinde und Anwälte haben". Es gibt einen Klub von Müttern, deren Kinder Mörder sind. Endlos verblüffende Dialoge.

Dazu auf jeder Seite Sätze, die man sich für immer merkt. Und in dieser grenzenlosen Exzentrik liegt vielleicht der Grund für Williams späten Erfolg auch in Deutschland. Wir alle haben viele Jahre lange sehr viel realistische Literatur gelesen. Egal ob Elena Ferrante oder Knausgaard oder Juli Zeh. Verständliche Bücher über verständliche Dinge in verständlicher Form. Meist auch leicht konsumierbar.

Offenbar gibt es aber jetzt eine Lust auf ganz Anderes: Joy Williams’ Stories muss man in kleinen Dosen genießen. Dann kann man in Ruhe darüber staunen, welch wilde Zauberwelten aus ganz wenigen Worten gemacht werden können. Was Literatur alles kann! Und am Ende jeder Geschichte schüttelt man sich kurz und fragt: Was war das eigentlich, was hab ich da gelesen?

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Joy Williams: Stories
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz
dtv, 2023
304 Seiten, 25 Euro