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Buchcover: "Mama Odessa" von Maxim Biller

Buch der Woche

"Mama Odessa" von Maxim Biller

Stand: 18.08.2023, 11:29 Uhr

Maxim Biller erzählt in seinen Romanen seit 30 Jahren die Geschichte seiner Familie. In immer neuen Versionen. Denn die eine Wahrheit, die gibt es nicht.

Anfang der 70er Jahre emigriert die Familie Grinbaum aus Odessa nach Hamburg. Vater, Mutter, Sohn. Die Grinbaums fliehen vor sowjetischem Antisemitismus und Unfreiheit und landen im kalten Hamburg. In einem Stadtteil, in dem früher einmal viele Juden gelebt haben. In einem Land, das tief gezeichnet ist von seiner jüngsten Gewaltgeschichte.

Maxim Biller, unerreichter Meister der kurzen Form in der neueren deutschen Literatur, erzählt in "Mama Odessa" die Geschichte einer Familie über drei Generationen. Er erzählt ein Jahrhundert. Und er erzählt von Liebe und Literatur, von alten Geheimnissen und tiefen Verletzungen. Und das alles auf 230 Seiten.

Wer in den vergangenen 30 Jahren auch nur ein Buch von Biller gelesen hat weiß, dass sein Lebensthema die Geschichte der eigenen Familie ist. Die Parallelen zwischen den realen Billers und der Familie Grinbaum liegen auf der Hand: Die Herkunft aus der Sowjetunion, die Emigration nach Hamburg, die literarischen Karrieren.

Die Unterschiede allerdings auch. Dahinter steckt eine Einsicht, die für Billers Werk und Denken zentral ist: Die Geschichte und die eine gültige Wahrheit gibt es nicht. Auch die Geschichte der eigenen Familie muss immer neu erfunden werden. In Versionen.

Die größte Neuerung in der neuesten Variation auf Billers Lebensthema steht im Titel: Odessa. Die realen Billers haben hier nie gelebt, sie kamen von Moskau über Prag nach Hamburg. Allerdings: Sie gehörten wie die fiktionalen Grinbaums zur sowjetischen Intelligenz. Und für die war Odessa immer ein Traum- und Sehnsuchtsort.

In Odessa spielt der Film "Panzerkreuzer Potemkin", ohne Odessa ist die russische Musik genauso unvorstellbar, wie die russische Literatur. Und natürlich war Odessa auch immer ein Zentrum des jüdischen Lebens. Die Synagogen und Kantoren, die Erfindung des Zionismus im späten 19. Jahrhundert, die jüdische Gangsterwelt von Isaak Babel. Und dann: das Massaker vom Tolbuchin-Platz 1941, bei dem mehr als 20.000 Juden an einem einzigen Tag ermordet wurden.

Das alles und noch viel mehr kann Maxim Biller jetzt in "Mama Odessa" erzählen, während er die Geschichte der Grinbaums erzählt. Und die eigene. Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Maxim Biller: Mama Odessa
Kiepenheuer und Witsch, 2023
230 Seiten, 24 Euro