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Buchcover: "Koller" von Annika Büsing

"Koller" von Annika Büsing

Stand: 07.07.2023, 08:32 Uhr

Die Geschichte beginnt mit der Sehnsucht nach dem Meer, es folgt eine verzauberte Begegnung im Park und entwickelt sich zum emotional aufwühlenden Roadtrip quer durch Deutschland. Am Ende wird klar: gute Literatur kann nicht nur von Liebe erzählen, sie kann sie erschaffen.

Chris trifft im Park auf Koller. Ein Typ mit pinken Fingernägeln und der Ausstrahlung eines Königs. Die Anziehung ist von Anfang an groß. So groß und besonders, dass beide es nicht vermasseln wollen. Und dann rollt die Geschichte an. Eigentlich soll es ans Meer gehen, aber schon nach wenigen Kilometern werden peu à peu Lebensgeschichten ausgepackt, und die Richtung ändert sich. Koller hat eine behinderte Schwester, die er sehr liebt, aber seit langer Zeit nicht mehr gesehen hat, also ist ihre Wohngruppe in Ludwigsburg die nächste Station. Koller erfährt unterwegs, dass er eine Tochter von vier Jahren hat. Die lebt in der Eifel, wo gerade die Flutkatastrophe wütet. Sie fahren hin (nicht einfach!).

Koller und Chris gehen die Dinge sehr unterschiedlich an, einer impulsiv, auf sein Glück vertrauend, der andere vorsichtig mit fast zu kühlem Kopf. Die Fahrt wird zur Zerreißprobe. Hat die Faszination, die Anziehung zwischen Chris und Koller überhaupt eine Chance? Chris, in weiten Teilen der Erzähler, reflektiert auch, was er selbst im Gepäck hat: Die Mutter, die sowohl seine Zeugung als auch das Stillen wissenschaftlich anging und eine Art Logbuch führte. Die vielen Zuschreibungen und Zeugnissätze: wie „Chris muss mutiger/empathischer/… werden“... - Als die beiden endlich am Meer sind, kommt die größte Herausforderung: ein Erbe will endlich angetreten werden.

Annika Büsing schreibt den Roman wie eine Schöpfungsgeschichte, verteilt auf sieben Tage. Der Ton ist federnd, tiefgründig und liebevoll bis ins Detail. Keine ihrer Figuren ist vorhersehbar. Und auch die Liebe fließt, wo sie will, unabhängig von Geschlechtern, von Alter, von jeglichen Erwartungen. Ein Buch, das man eigentlich kaum nacherzählen kann, denn es enthält eine tiefliegende Essenz, die sich am besten mit dem Leseerlebnis selbst vermittelt. Also: bitte lesen.

Eine Rezension von Marija Bakker

Literaturangaben:
Annika Büsing: Koller
Roman Steidl Verlag 176 Seiten, 20 Euro