Buchcover: "Die Formel der Hoffnung" von Lynn Cullen

"Die Formel der Hoffnung" von Lynn Cullen

Stand: 20.12.2023, 15:00 Uhr

Ein Leben für die Polioforschung: Dr. Dorothy Horstmann ist eine der vergessenen Heldinnen der Medizingeschichte. US-Autorin Lynn Cullen zeigt mit ihrer Romanbiographie eine schmerzhafte Lücke auf und gibt die süße Impfung gegen das Vergessen.

Es beginnt 80 Jahre vor Corona, aber das Schreckens-Szenario im Jahr 1940 wirkt auf unheimliche Weise vertraut. Spielplätze, Schwimmbäder und ganze Straßen in den USA sind wie leergefegt, nirgendwo spielen Kinder.

Das Polio-Virus hat das Land und weite Teile der Welt im Griff. Jeden Sommer bangen Eltern um ihre Kinder, denn es ist noch nicht einmal klar, wie sich die Krankheit überträgt und erst recht nicht, wie sie sich medizinisch bekämpfen lässt.

Das zu ändern, tritt die junge ambitionierte Ärztin Dorothy M. Horstmann an. Nur über ein Versehen bekommt sie eine Assistenzstelle in der Uni-Klinik in Nashville. Und ein weiterer Zufall führt sie zusammen mit dem Star-Epidemiologen Albert Sabin, (der später den Lebendimpfstoff gegen Polio entwickeln wird).

Während alle anderen Kollegen Dorothy hartnäckig zu ignorieren versuchen, erkennt Sabin in ihr die Mitstreiterin im Kampf gegen das Virus – es wird allerdings dauern, bis er in ihr auch die Ebenbürtige sieht. Dorothy Horstmann ist in jeder Hinsicht eine Erscheinung, 1,85 groß, klug, innovativ, mit ausgeprägtem Forschergeist.

Ihre Familiengeschichte mit einem an Enzephalitis erkrankten Vater hat sie zudem mit besonderer Empathie ausgestattet. Wäre Sie keine reale Person gewesen, könnte man sie als Romanfigur für reichlich idealisiert halten. Es gibt aber historische Quellen, die nahelegen, dass die Persönlichkeit dieser Forscherin tatsächlich bemerkenswert war und Autorin Lynn Cullen auf dieser Ebene gut recherchiert hat.

Der Roman erzählt, jeweils unterteilt in Mehrjahres-Episoden, die Zeit von 1940 bis 1963. Wir begleiten Dorothys mühsamen Weg durch die Forschungsstationen, vor allem in Yale, erleben mit ihr die Eitelkeiten männlicher Kollegen, die auch ihre Ambition, das Polio-Virus im Blut nachzuweisen, immer wieder untergraben.

Statt ihrer eigenen Fährte zu folgen, muss sie die der anderen unterstützen. So fängt sie Fliegen, die im Verdacht stehen, das Virus zu übertragen, dokumentiert Polio-Ausbrüche auf der ganzen Welt, wird eine geschätzte Epidemiologin. Als sie endlich die eigene Forschung vorantreiben darf, findet fast zeitgleich auch ein Kollege den Virus-Nachweis im Blut. Es ist die essentielle Erkenntnis, um den ersehnten Polio-Impfstoff zu entwickeln. Es hätte ihn schon viele Jahre früher geben können.

Obwohl die epidemiologische Fachwelt im Jahr 1953 erwartet, dass Horstmann dafür den Medizin-Nobelpreis bekommt, geht sie leer aus. Und nicht nur die höchste Weihe der Wissenschaft ist verloren, auch ihre große Liebe zu einem dänischen Widerstandskämpfer scheint unmöglich. Ob es eine solche Liebe tatsächlich gab, ist unbekannt.

Im Roman liefert sie den Stoff, mit dem die Autorin hoffentlich auch ein Publikum erreicht, das sich sonst nicht diesem Kapitel der Medizingeschichte widmen würde. Und wenn das funktioniert, ist es eine schöne Impf-Analogie: Die lesenswerte, gute geschriebene Wissenschaftsschmonzette als süßes Gegengift in einer immer noch männerdominerten Medizin- und Forschungswelt. Verbreitung dringend empfohlen!

Eine Rezension von Marija Bakker

Literaturangaben:
Lynn Cullen: Die Formel der Hoffnung
Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Poets
S. Fischer Verlag, 2023
464 Seiten, 24 Euro