Reisende gehen nachts am Hauptbahnhof Köln vorbei

Interview - Nach den "Kölner Übergriffen"

"Machtdemonstrationen nach neuem Muster"

Stand: 07.01.2016, 09:30 Uhr

Die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht waren nach Ansicht des Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer keine organisierte Kriminalität. "Es geht um Gewalt, und damit um Machtdemonstration", so Heitmeyer im Morgenecho-Interview. Die Täter folgten damit völlig neuen Mechanismen.

Die Vorfälle am Kölner Hauptbahnhof und ähnliche in anderen deutschen Großstädten in der Silvesternacht beschäftigen noch immer Polizei und Politik – und auch die Sozialforscher. Das Phänomen einer Zusammenrottung von Dutzenden oder sogar Hunderten junger Männer, die massiven sexuellen Übergriffe auf Frauen aus dieser Gruppe hinaus – das ist etwas Neues in diesem Land.

Professor Wilhelm Heitmeyer lehrt am Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

WDR 5: Nach Augenzeugenberichten waren die Täter Einwanderer afrikanischer und arabischer Herkunft. Bundesjustizminister Heiko Maas spricht in diesem Zusammenhang von organisierter Kriminalität. Innenminister de Maizière fordert die Anerkennung unserer Werteordnung. Es gibt andere Wortmeldungen, wo ein Subtext mitschwingt, der lautet, solche Straftaten in solcher Täterkonstellation sind einzigartig. Und es schwingt auch mit: Diese Straftaten konnten so nur von dieser Tätergruppe begangen werden. Wie beurteilt das der Sozialforscher?

Wilhelm Heitmeyer: Also zunächst mal muss man die Begriffe noch einmal neu betrachten. Es geht nicht um sexuelle Übergriffe, sondern es geht um Gewalt, und damit um Machtdemonstration. Und der zweite Punkt: Organisierte Kriminalität bedeutet, dass dahinter Struktur steckt. Wir haben es hier, glaube ich, eher mit verabredeter Kriminalität zu tun, die auch von Strukturlosigkeit geprägt ist.

Man muss verschiedene Faktoren und Mechanismen genauer ansehen, die zusammenwirken. Das erste ist, dass über die neuen Kommunikationsmittel sehr schnell eine kritische Masse hergestellt werden kann. Das ist ein wichtiger Punkt. Die Masse ist ein gefährliches Konstrukt. Das zweite ist, dass wir es mit terminbezogenen Selbstverständlichkeiten zu tun gehabt haben. Also die Selbstverständlichkeit von Lärm in der Silvesternacht, Hilfeschreie gehen unter oder werden falsch interpretiert, und die Selbstverständlichkeit von Alkohol. Dieses wirkt zusammen mit der Masse, in der wiederum viele Faktoren zusammenkommen: nämlich so etwas wie eine Verantwortungsdiffusion, das heißt eine Verantwortungslosigkeit. Sonst könnte man nicht erklären, warum Raketen in Menschenansammlungen geschossen werden. Masse bietet auch immer Schutz vor individueller Strafzurechnung.  

Und das dritte ist: Wenn man die bisherigen Beschreibungen der Tätergruppen so nimmt, wie sie berichtet werden, dann ist es so, dass diese Gruppe häufig individuelle Ohnmacht im Alltag erfährt. Migranten, die nicht anerkannt sind, und die das dann unter bestimmten Gelegenheitsstrukturen in kollektive Allmacht verwandeln. Dazu ist wieder die Masse die Voraussetzung.

WDR 5: Das, was Sie beschrieben haben, diese Ohnmacht, die sich im Alltag von Einwanderern speziell in eine kollektive Allmacht in einer Gruppe verwandelt – ist das für Sie der einzige Aspekt in diesem Zusammenhang? Es handelt sich immerhin um Einwanderer aus Gesellschaften, in denen es für Frauen überwiegend kein Selbstbestimmungsrecht und keine Gleichstellung von Mann und Frau gibt?

Heitmeyer: Das kommt natürlich dazu, dass die Ungleichwertigkeit von Männern und Frauen in solchen Gesellschaften eine besondere Rolle spielt, die sich aus der Masse heraus wiederum besonders schnell ausleben lässt. Zumal wir es ja in Köln mit einem verdichteten Raum zu tun hatten, die solche Gewalt, solche Machtdemonstrationen dann noch schneller möglich werden lassen.

WDR 5: Ist es also angemessen, wenn zum Beispiel der Bundesinnenminister mit Blick auf die Tätergruppe Einwanderer in allgemeiner Form die Achtung unserer Werteordnung fordert, wenn zum Beispiel die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagt, wer solche Straftaten als Einwanderer begeht, hat sein Gastrecht verwirkt?

Wilhelm Heitmeyer

Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer

Heitmeyer: Natürlich. Es gibt bestimmte Wertvorstellungen in jeder Gesellschaft, die nicht verhandelbar sind. Und in unserer Gesellschaft, die ja sehr differenziert ist, mit vielen unterschiedlichen Lebensstilen, sind es vor allem zwei, die nicht verhandelbar sind: das ist die Gleichwertigkeit der Menschen und die psychische und physische Unversehrtheit. Über viele Lebensstile kann man reden, das ist ja auch ein Stück Freiheit, aber diese basalen Grundwerte sind nicht verhandelbar. Insofern ist auch das Strafrecht dort gefordert.

Aber: Ich würde sehr davor warnen, diese starken Sprüchen, wie sie aus der Politik herausschallen, die die ganze Härte des Gesetzes fordern, immer wieder in Stellung zu bringen. Denn wenn man diese starken Sprüche nicht realisieren kann, wenn sie nicht eingelöst werden können aufgrund der schwierigen Lage der Strafverfolgung, dann stärkt das an vielen Stellen die Politikverhöhnung. Gerade bei jenen Bevölkerungsgruppen, die ohnehin schon ihre rohe Bürgerlichkeit pflegen, ob das nun Pegida ist oder Teile von der AfD oder auch Pro NRW.

WDR 5: Eine andere Frage ist, die häufig in diesem Zusammenhang gestellt wird, welchen sprachlichen Umgang halten Sie für angemessen? Sollen wir künftig nicht mehr sagen "Mann vergewaltigt Frau", sondern "arabischer Mann vergewaltigt deutsche Frau"?

Heitmeyer: Nun, es ist ja kein Geheimnis, dass die Fragen auch bei deutschen Männern vorkommen. Bis vor einigen Jahren war ja sogar die Vergewaltigung in der Ehe noch straffrei. Gleichzeitig muss man schon darauf hinweisen, dass – gerade wenn es um Gruppenphänomene geht – dass man die Täter auch genau benennt, weil man erst dann möglicherweise die Mechanismen erkennt oder die Motivlagen, die sich dahinter verbergen.

Das Interview führte Thomas Schaaf am 07.01.2016 im WDR 5 Morgenecho.

Für eine bessere Rezeption weicht die schriftliche Fassung des Interviews an einigen Stellen vom gesendeten Interview ab. Die intendierte Ausrichtung der Fragen und Antworten bleibt dabei unberührt.